Ich glaube der Bibel, weil sie die einzig realistische Sicht vom Menschen präsentiert. Diese Sicht ist nicht schmeichelhaft, aber sie ist realistisch.
Natürlich kann man fragen: Warum braucht es überhaupt eine klar definierte Sicht vom Menschen? Ist der Mensch nicht sowieso viel zu komplex, als dass man sein Wesen in einigen wenigen Sätzen beschreiben und darstellen könnte?
Ja, es stimmt: Jedes menschliche Individuum ist hochkomplex. Trotzdem gibt es einige alle Menschen verbindenden Wesenszüge, die sich gut beschreiben lassen. Heute glauben zum Beispiel die meisten, dass der Mensch im Prinzip herzensgut ist. Wie es angesichts dieser „Herzensgüte“ möglich ist, dass eine blutige Spur der Zerstörung und des Todes durch die Geschichte zieht, für die der Mensch ganz allein verantwortlich ist. Dies Geheimnis des Bösen bleibt unerklärt und unerklärlich. Diese Tatsache bringt die Menschen in ihrer Mehrheit allerdings nicht davon ab, für die Zukunft dennoch Großes vom Menschen zu erwarten. Aber wie realistisch ist diese Hoffnung? Wie verlässlich ist ihre Basis? Und was unterscheidet beide von schlichtem menschlichen Wunschdenken?
Wer heute eine realistische Sicht vom Menschen präsentieren will, muss eine Erklärung für die Tatsache liefern, dass sich der Mensch in der gesamten Menschheitsgeschichte als ein zerstörerisches Wesen gezeigt hat. Es gibt keine irgendwie verifizierbare Phase der Geschichte, in der das nachweisbar anders gewesen wäre. Schon die frühesten Zeugnisse der Menschheit in der Ur- und Frühgeschichte zeigen den Menschen als ein zerstörerisches Wesen. Das heißt nicht, dass der Mensch keinen Sinn für das Gute und Schöne hätte. Er hat das sehr wohl! Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass etwas enorm Destruktives in ihm am Werk ist, das sich katastrophal auswirkt, wenn es nicht durch staatliche Ordnung, Gesetze und Strafen in Schach gehalten wird.
Wie ist es dann aber möglich, dass der Mensch zwar das Gute kennt, am Ende aber das Böse tut? Was treibt ihn in diesem seinem Tun an?
Viele berufen sich auf eine scheinbar einfache Erklärung. Sie sagen (sinngemäß): Der Mensch ist wie ein Rohdiamant. Er muss geschliffen werden. Dann wird aus ihm ein strahlender Edelstein. Dieses „Schleifen“ geschieht durch Erziehung und Bildung: Im Elternhaus, in der Schule, in der Gesellschaft. Es gibt kein „Geheimnis des Bösen“ im Menschen. Es gibt nur die Herausforderung seiner Erziehung und Bildung. Wenn die angemessen vorbereitet und professionell umgesetzt wird, muss das sogenannte Böse über Kurz oder Lang das Feld räumen.
Das Problem bei dieser Sicht ist, dass es im zurückliegenden 20. Jahrhundert großangelegte Programme zur Erziehung des Menschen gegeben hat: In China führte Mao Zedong von 1966 – 1976 in China die Kulturrevolution[1] durch. Im Rahmen dieser Aktion kamen 40 – 80 Millionen Menschen[2] ums Leben. In der Sowjetunion organisierte Josef Stalin sozialistische Umerziehungsprogramme. Ihnen fielen 20 – 30 Millionen Menschen[3] zum Opfer. In den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts forcierte Adolf Hitler eine völkische Umerziehung[4] des deutschen Volkes. Ungezählte Gegner seiner Politik landeten in Konzentrationslagern. Viele kamen dort um. Darüber hinaus plante und organisierte Hitler den millionenfachen Mord an den Juden.
Historiker sind sich einig darin, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert ausufernder Gewalt und furchtbarer Kriege gewesen ist[5]. Alle Programme, die das Ziel verfolgten, einen neuen, guten Menschen zu schaffen, sind auf ganzer Linie gescheitert. Die These vom „Rohdiamanten Mensch“, der nur geschliffen werden müsse, hat sich gerade im 20. Jahrhundert in furchtbarer und zynischer Weise selbst widerlegt.
(Fortsetzung folgt)
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturrevolution
[2]https://de.wikipedia.org/wiki/Mao_Zedong#:~:text=Mao%20wird%20insgesamt%20f%C3%BCr%20bis,in%20der%20westlichen%20Welt%20rezipiert.
[3] https://www.jugendopposition.de/lexikon/sachbegriffe/148629/stalinismus
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Erziehung_im_Nationalsozialismus
[5] Gabriel Kolko, Das Jahrhundert der Kriege, Frankfurt a. Main 1999.
Margaret McMillan, Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten, Berlin 2021.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Krieg_(20._Jahrhundert)
https://www.welt.de/print-welt/article156298/Das-Jahrhundert-der-Gewalt.html
Niall Ferguson, Doom: Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft, München 2021.