Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. (Die Bibel, Lukasevangelium 15, 25 – 27)
Der ältere Sohn hat auf dem Feld die Arbeit der Angestellten des Hauses überwacht. Als ältester Sohn würde er nicht selbst die harte Feldarbeit tun. Als er dem Haus seines Vaters nahe kommt, hört den Lärm eines ausgelassenen Festes. Nun würde eigentlich jeder erwarten, dass er das Haus und den Festsaal betreten und sich nach dem Grund für das Fest erkundigen würde. Aber – das tut er nicht. Er ruft einen der Knechte zu sich. Und dieser Knecht eröffnet nun dem älteren Sohn, dass sein Vater im Begriff ist, sich mit seinem zurückgekehrten jüngeren Bruder, also einem Sünder, an einen Tisch zu setzen und zu essen. Und jetzt beachten Sie seine Reaktion:
Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. (Die Bibel, Lukasevangelium 15,28)
Der ältere Sohn reagiert auf das Fest mit explosiver Wut! Und diese Wut ist so groß, dass er sich weigert, das Haus zu betreten. Er weigert sich, obwohl die Gäste bereits eingetroffen sind.
Nun muss man wissen: Bei jedem größeren gesellschaftlichen Anlass, egal ob mit oder ohne Festessen, wird im Nahen Osten von allen männlichen Familienmitgliedern erwartet, dass sie erscheinen und die Gäste mit Handschlag begrüßen. Das gilt selbst dann, wenn sie gar nicht die Absicht haben, lange zu bleiben. Es gilt als persönliche Beleidigung gegenüber den Gästen und dem Vater als Gastgeber, wenn jemand diese Höflichkeitsgeste verweigert. Der ältere Sohn weiß das natürlich. Und darum ist sein Verhalten eine absichtliche öffentliche Beleidigung des Vaters. Dazu kommt, dass bei solchen Festen der älteste Sohn eigentlich immer die Aufgabe hatte, als eine Art „Oberkellner“ die Arbeit der Diener zu beaufsichtigen. Die Gäste werden dadurch in besonderer Weise geehrt. Sie sind dem Gastgeber so viel wert, dass der älteste Sohn selbst sie bedient. Das soll deutlich werden. Nun steckt der älteste Sohn in einer Klemme. Es würde ihm nicht schwer fallen, den Gästen zu dienen. Aber unter den Gästen, wahrscheinlich an der Spitze der Tafel sitzt sein jüngerer Bruder. Den müsste er auch bedienen. Und das bringt er nicht über sich. Er weigert sich, das Haus, geschweige denn den Festsaal, auch nur zu betreten.
Natürlich - in einem Dorf bleibt nichts verborgen – spricht sich das unerhörte Verhalten des älteren Sohne sofort unter den Festgästen herum. Alle halten erschrocken den Atem an und warten auf die Reaktion des Vaters. Alle erwarten, dass der ältere Sohn entweder sofort bestraft oder aber komplett ignoriert wird, um dann später, wenn die Gäste gegangen sind, äußerst unsanft angefasst zu werden. Und wieder kommt es zu einer völlig unerwarteten Reaktion des Vaters:
Da ging sein Vater heraus und bat ihn. (Die Bibel, Lukasevangelium 15,28)
Dass der Vater den Festsaal verlässt und zu seinem Sohn vor das Haus geht, um mit ihm zu reden, ist große Demütigung für den Vater. Zum zweiten Mal an diesem Tag nimmt der Vater eine große Demütigung auf sich, um ... ja, um was zu erreichen? Er will seinen älteren Sohn für sich gewinnen. Das ist seine Absicht. Und dafür nimmt er die Demütigung auf sich. Es ist nur schwer zu vermitteln, was für einen Schock es unter den Gästen ausgelöst haben muss, als der Vater seine Gäste ganz bewusst verlässt um zu seinem Sohn auf den Hof zu gehen und ihn versöhnlich zu stimmen.
Der Vater geht also hinaus und bittet seinen Ältesten. Natürlich könnte er den Sohn sofort bestrafen. Aber dadurch würde die Bitterkeit des Ältesten nur noch größer werden. So trägt der Vater auch hier die Kosten für die Versöhnung. Er geht hinaus zu seinem Sohn und bittet ihn. Und jetzt – da draußen auf dem Hof – schleudert der ältere Sohn seinem Vater Worte entgegen, die einen tiefen Blick in sein Herz erlauben:
Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. (Die Bibel, Lukasevangelium 15, 29 – 30)
Wie eigentlich beschreibt hier der ältere Sohn seinen Vater? Was für ein Bild hat er von ihm? Es gibt nur eine Antwort: Er beschreibt ihn als Sklavenhalter. Sein Bild von seinem Vater ist das eines miesen Ausbeuters:
Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
Ist das nicht seltsam: Jahrelang hat der ältere Sohn auf dem Hof gelebt und gearbeitet. Er hat alle Gebote gehalten, wie er stolz bemerkt. Und doch hat er eine unbändige Wut auf seinen Vater. Das gibt es also, dass Menschen ein Leben nach den Geboten Gottes führen, hohe moralische Standards in ihrem Leben haben und höchsten Idealen nachstreben, und doch ist ihre Beziehung zu Gott zutiefst gestört. Wie kommt das bloß?
Nun, es hängt im Tiefsten damit zusammen, dass wir Menschen dazu neigen, mit Gott wie mit einem Geschäftspartner umzugehen. Wie sieht das Geschäft aus, das wir mit ihm machen wollen? Es ist dieses: Wir achten darauf, dass unser Leben mit den Geboten Gottes möglichst genau übereinstimmt: Wir bemühen uns, die Wahrheit zu sagen. Wir vergessen die Armen nicht. Wir erziehen unsere Kinder ordentlich. Wir schicken sie zum Konfirmandenunterricht und achten darauf, dass sie einen Beruf lernen, der sie und ihre Familien ernährt. Wir brechen nicht die Ehe. Wir machen keine Eskapaden. Wir haben keine verborgenen Süchte. Wir haben keine dunklen Geheimnisse. Wir halten Kontakt zur Kirchengemeinde. Wir geben niederen Regungen in uns (wie z. B. Hass oder Neid oder Eifersucht) nicht nach. Das ist unser Anteil, den wir in unser Geschäft mit Gott einbringen. Wir lassen uns das Leben mit Gott also durchaus etwas kosten. Und er? Was muss er einbringen, damit der Handel stimmt?
Er muss die Ziele fördern, die wir für unser Leben festgelegt haben. Er muss dafür sorgen, dass unsere Lebensplanung gelingt. Er muss uns vor Tragödien und Unglücken bewahren. Er muss akzeptieren, dass wir es sind, die sagen, wo es für uns längs geht im Leben. Er muss Ja sagen dazu, dass in der Mitte unseres Lebens wir selbst sitzen, dass dort kein Platz für Ihn ist und Er sich dem fügen muss, was wir beschließen.
Das ist das Geschäft. Es läuft so oder so ähnlich bei sehr vielen ab. Selbst Christen fallen immer wieder einmal in diese Geschäftemacherei mit Gott zurück. Der Kern dieses Geschäftes ist, dass wir Lohn von Gott erwarten. Lohn dafür, dass wir alle Gebote gehalten haben. So ist es auch bei dem älteren Sohn in unserem Gleichnis: Er erwartet Lohn von seinem Vater. Und er ist empört, dass sein Vater ihm nicht den Lohn gibt, den er meint erwarten zu können. Was aber seine Wut zum Siedepunkt führt, ist die Tatsache, dass der jüngere Sohn, der das Erbe verprasst hat, all das im Übermaß bekommt, was ihm, dem Älteren (scheinbar) vorenthalten wurde: Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
Liebe Freunde, wer versucht Geschäfte zu machen mit Gott, den macht es rasend, wenn andere, die sich gar nicht bemüht haben, von Gott reich beschenkt werden. Gnade kann Menschen rasend machen vor Wut. Weil sie es himmelschreiend ungerecht finden, wenn Gott andere großzügig behandelt, an ihnen aber – so scheint es ihnen – knausert, obwohl sie doch alle Gebote gehalten haben.
Kennen Sie das auch, dass Menschen einen tiefen Groll auf Gott entwickeln, wenn sie ernsthaft krank werden? Kennen Sie das auch, dass sie dann (sinngemäß) sagen: „Nie habe ich irgendeinem Menschen irgendetwas zuleide getan. Nie habe ich die Ehe gebrochen und nie bin ich aus der Kirche ausgetreten. Und dennoch bin ich jetzt so krank! Wie konnte Gott das bloß zulassen! Ich verstehe überhaupt nichts mehr! Andere sind gesund und leben herrlich und in Freuden! Und ich werde so gestraft! Es ist ein schönes ausgewachsenes Unrecht!“
Wir alle neigen dazu, Geschäfte mit Gott machen zu wollen. Es ist dies ein Zeichen dafür, dass wir Sünder sind. Aber Gott will keine Geschäfte mit uns machen. Er will uns keinen Lohn für unsere Dienste schulden. Er will unser Vater sein und wir seine Kinder. Lohn und Geschäfte sollen überhaupt keine Rolle spielen! Achten Sie darauf, wie der Vater das seinem Ältesten sagt:
Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden. (Die Bibel, Lukasevangelium 15, 31 – 32)
Haben Sie es wahrgenommen, was der Vater hier sagt? Er bittet seinen Ältesten und sagt: Du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein! Will sagen: Gott teilt immer alles mit seinen Kindern. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, irgendwelche Löhne zu zahlen. Mit so einer Pfennigfuchserei und Erbsenzählerei gibt er sich gar nicht erst ab! Er teilt alles mit seinen Kindern, was er hat: Alles, was mein ist, das ist dein! Und wenn Sie durch Jesus ein Kind Gottes geworden sind, dann gilt das auch für Sie! Es ist, als ob Gott es Ihnen ganz persönlich sagt: Alles, was mein ist, das ist dein! Verstehen Sie: Sie brauchen nicht Geschäfte mit Gott zu machen, um etwas von ihm zu bekommen! Er möchte alles, was er hat (!!) – und das ist ja nun nicht gerade wenig – auch mit Ihnen teilen! Alles, was dazu nötig ist, ist dies Eine, dass Sie sich von ihm finden lassen, so wie der jüngere Sohn sich von seinem Vater finden ließ.
Und jetzt kommt das Aller-Erstaunlichste: Dem Gleichnis vom verstoßenen Vater fehlt der eigentliche Höhepunkt. Es fehlt die Antwort des Ältesten. Wir erfahren nicht, ob er auf die Bitte seines Vater einging oder sich weiter verhärtete. Der Höhepunkt der Geschichte fehlt! Aber warum fehlt er? Nun, die Antwort liegt nahe. Im Lukasevangelium 15, 1 – 2 wird berichtet, dass Jesus das „Gleichnis vom verstoßenen Vater“ den Pharisäern und Schriftgelehrten erzählte, die sich daran störten, dass er sich mit Sündern an einen Tisch setzte und mit ihnen aß. Es liegt sehr nahe, dass Pharisäer und Schriftgelehrten, die im Volk meist einfach „die Ältesten“ genannt wurden, sich ohne Schwierigkeiten in dem „ältesten“ Sohn wiedererkannt haben. Und Jesus hat den Höhepunkt seines Gleichnisses sehr bewusst wegen ihnen weggelassen. Die fehlende Antwort des ältesten Sohnes war wie eine Frage an Sie: „Was werdet ihr jetzt mit mir machen? Wie werdet ihr euch mir gegenüber verhalten? Werdet ihr bereit sein, euch von mir (von Gott) finden zu lassen oder werdet ihr weiter Geschäfte mit ihm machen wollen? Wie werdet ihr euch entscheiden?“
Der fehlende Höhepunkt dieses Gleichnisses ist wie eine Frage, eine Frage an jeden Menschen: Wie werden wir uns entscheiden? Werden wir uns finden lassen von dem lebendigen, heiligen Gott, der alles mit uns teilen will? Oder werden wir fern von ihm bleiben in unseren Herzen?