Der verstoßene Vater. (4)

Quelle:  pixabay
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Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.  Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.

(Die Bibel, Lukasevangelium 15, 13 – 16)

 

Er brachte sein Erbteil durch mit Prassen. Der ältere Bruder vermutet später (Die Bibel, Lukasevangelium 15, 30), dass dieses Prassen auf unmoralische Weise geschah, nämlich mit Huren. Aber das kann der ältere Bruder gar nicht wissen, weil der jüngere Sohn ja in einem fernen Land war. Seine Worte sind also reine Verleumdung. Feststeht nur, dass der jüngere Sohn seine Geld durchbrachte. Womit, darüber schweigt das Gleichnis. Und dann, als alles weg ist, kommt eine große Hungersnot über das Land, und er fängt an zu hungern.

 

Auch im 21. Jahrhundert gibt es Hungersnöte. Das wissen wir alle. Und die sind ernst genug. Aber damals war eine Hungersnot ein unbeschreiblicher Horror. Eine Vorstellung gibt uns eine Hungersnot, die 1889 im Sudan wütete. Ein österreichischer Offizier namens Rudolf Carl von Slatin erlebte diese Hungersnot mit und berichtete später davon.

 

Er erzählt von Kindern, die in die Sklaverei verkauft wurden, damit sie nicht verhungern mussten. Er spricht davon, dass jeden Morgen auf den Straßen der Hauptstadt tote Menschen gefunden wurden. Wenn die Zahl anstieg, erklärte der Herrscher der Stadt alle verantwortlich, die Toten vor ihren Häusern in den Fluss zu werfen. Die Einwohner versuchten daraufhin, die Leichname vor ihren Häusern auf die Seite ihrer Nachbarn zu schaffen. Jeden Morgen gab es in der ganzen Stadt Streitereien darüber, wo denn die Toten nun tatsächlich gestorben waren. Die Händler mussten Peitschen aus Nilpferdleder bei sich tragen, um sich die verrückt gewordenen Bettler vom Leib zu halten. Unbewaffnete Männer, die es wagten, nachts auszugehen, wurden angegriffen und gegessen. Umherstreifende Tiere wurden getötet und ungekocht verzehrt. Schuhleder, verfaultes Fleisch und Abfall  - alles wurde gegessen. Dorffamilien, die sich dem Tode nahe sahen, mauerten die Türen ihrer Häuser zu und warteten innen auf den Tod, damit ihre Leichen nicht von den Hyänen gefressen wurden. Ganze Dörfer wurden auf diese Weise ausgerottet.

 

All dies erlebt der jüngere Sohn. Und jetzt stellt sich sofort unabweisbar eine Frage: Warum kehrte er - trotz diesen Horrors - dennoch nicht nach Hause zurück? Warum?

 

Nun, es gab mindestens drei sehr schwerwiegende Gründe:

 

1. Er hat die Beziehung zu seinem Vater auf brutalste Weise zerstört. Er wagt es nicht, ihm unter die Augen zu treten.

 

2. Wenn er nach Hause zurückkehrt, muss er mit der abgrundtiefen Verachtung seines älteren Bruders leben. Er muss das Brot seines Bruders essen und seine Verachtung schlucken. Und darum wagt er es auch nicht, seinem Bruder unter die Augen zu treten.

 

3. Wenn er nach Hause zurückkehrt, wartet die sogenannte Kezazah-Zeremonie auf ihn. Die jüdischen Sitten des ersten Jahrhunderts verlangten diese Zeremonie für den Fall, dass ein jüdischer Junge das Erbe seiner Familie unter Heiden vergeudete und es dennoch wagte, nach Hause zu kommen. Worin bestand diese Zeremonie? Sie bestand darin, dass die Dorfgemeinschaft einen großen Tontopf vor dem Heimkehrer zerschmetterte. Dann riefen alle: „Dieser Mensch ist von seinem Volk abgeschnitten!“ Hinterher würde niemand mehr mit ihm zu tun haben wollen. Niemand würde ihm auch nur mehr ein Stück Brot geben. Und so wagt er es auch nicht, den Bewohnern seines Dorfes unter die Augen zu treten.