Radikal ICH (2)

Quelle:  pixabay
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In einem hat die Radikal-ICH-Philosophie sicher Recht: Es gibt altehrwürdige Traditionen, die dem Leben die Luft abschnüren. Auch Religion kann repressiven Charakter haben, und Doppelmoral kann das Leben vergiften.

 

Andererseits lohnt es, die Frage zu stellen: Wohin führt Radikal-ICH schlussendlich? Erreicht es das Ziel, das es propagiert, wirklich: ein authentisches Leben?

 

Zunächst wirkt die Freiheit, die Radikal-ICH anbietet, attraktiv und verheißungsvoll. Wer wollte das nicht: Frei, selbstbestimmt und authentisch leben? Wer wollte nicht eine ganz eigene, individuelle Lebensgeschichte schreiben?

 

Soweit, so gut. Wie aber wirkt sich Radikal-ICH auf der Mittel- und Langstrecke des Lebens aus?

 

Wie bereits angedeutet, gibt es genau hier ein Problem: Mittel- und langfristig ist es eine erhebliche Herausforderung, sich immer wieder neu zu erfinden. Die Signale, die das Ich aussendet, sind ja nicht einfach immer dieselben. Das Ich wandelt sich über die Jahre hinweg und zeigt sich von immer neuen Seiten. Das erfordert eine innere Bereitschaft, immer und immer wieder von vorn anzufangen, dem Ich auf seinen (manchmal überaus rätselhaften) Wegen zu folgen, ohne jemals endgültig anzukommen: „Was gestern noch galt, gilt schon heut´ oder morgen nicht mehr!“ (Hannes Wader) Dieser Lebensstil kostet viel Kraft und kann irgendwann zur Erschöpfung führen.

 

Und da gibt es noch ein Problem: Für die menschliche und psychische Reifung eines Menschen ist eine Grund-Konstanz unabdingbar. Ohne konstanten Rahmen und ohne Grund-Konstanten im Leben wird die innere Reifung sehr erschwert, vielleicht unmöglich gemacht. Wer sich stets neu erfindet, kann sich zwar immer wieder brandneu präsentieren. Stimmt! Aber er wird nur sehr unvollkommen innerlich reifen. Das kann – vor allem mit zunehmendem Alter – sehr frustrierend sein!

 

Und noch eine Frage stellt sich: Wohin führt es, wenn ein Mensch dem Radikal-ICH-Programm folgt und er sich ein Leben lang neu erfindet? Könnte es ihm nicht wie beim Schälen der Zwiebel ergehen? Eine Zwiebel hat bekanntlich viele Schichten. Wer sie – eine nach der anderen – entfernt, hat am Ende nichts. Es gibt keinen Kern. Ganz ähnlich könnten sich die Erfahrungen mit dem Radikal-ICH-Programm gestalten: Nach Jahren und Jahrzehnten des Sich-neu-Erfindens könnte sich unversehens die alte Frage neu stellen: Wer eigentlich bin ich wirklich? Wer bin ich, nachdem ich mich jahrelang gehäutet und immer wieder neu entdeckt habe? Wer?

 

Und dann ist da noch eine Schwierigkeit: Das Radikal-ICH-Programm lebt davon, dass es unvoreingenommen und ungehindert auf die Signale hört, die das Ich aussendet. Diesen Signalen zu folgen soll zur ersehnten Authentizität führen.

 

Die Frage, die sich an genau dieser Stelle stellt, ist aber diese: Wie eindeutig sind die Signale des Ich? Tagtäglich wird es mit zahllosen Botschaften (Internet, TV, andere Massenmedien) bombardiert. Es ist dominanten gesellschaftlichen Strömungen und dem stillen Anpassungsdruck seiner Peer-Group ausgesetzt. Mit anderen Worten: Das Ich ist permanent den verschiedensten Einflüssen ausgesetzt. Es ist manipulierbar. Was als authentische Signale des Ich beim Bewusstsein des Individuums ankommt, sind womöglich nur Signale verschiedenster Influencer, die das Ich unbemerkt und unreflektiert übernommen hat. Es kann also durchaus geschehen, dass Menschen, die dem Radikal-ICH-Programm gefolgt sind, nach Jahren zurückblicken und voller Schrecken erkennen, dass sie unbemerkt ich-fremden Trends gefolgt sind, unwissentlich manipuliert wurden und dem eigenen authentischen Ich darum jetzt ferner sind denn je.

 

Was dann?