Was ist Ihre erste Erinnerung an Ihre Geschwister?
Meine erste Erinnerung führt in einen kalten Tag im Spätherbst. In dem großen Garten meines Elternhauses sind die Blätter längst von den Bäumen geweht. Auf dem großen Sandplatz hat mein großer Bruder aus kantigen Steinen einen kleinen Ofen gebaut. Ein Feuer, genährt aus trockenen Ästen und Laub, leuchtet flackernd orange aus dem Ofen heraus. Ich bewundere meinen großen Bruder grenzenlos, dass er so einen tollen Ofen bauen und dann auch noch darin ein Feuer entfachen kann. Und da sitzen wir vier Geschwister nun um diesen kleinen Ofen. Mein Bruder lässt mich aus seinem Knie sitzen. Wir spüren die wohlige Wärme, die der kleine Ofen verbreitet und fühlen uns wie eine verschworene Gemeinschaft. Wir sind stark und verwegen zusammen. Nichts in der Welt kann uns erschrecken. Wir bieten allem die Stirn.
Es ist eigentümlich, welche Ereignisse aus der ganz frühen Kindheit das Gehirn so aufbewahrt, dass sie per Erinnerung auch Jahrzehnte später noch zugänglich sind. Irgendetwas an dieser verschworenen Runde um das Ofenfeuer muss mich so stark berührt haben, dass daraus die erste zugängliche Kindheits-Erinnerung wurde. Vielleicht war es die Geborgenheit, die das Besondere dieses Moments ausmachte. Vielleicht war es auch das Erlebnis ungetrübter Gemeinschaft. Oder es hatte etwas mit dem Feuer zu tun, dass meine Seele ausgerechnet diese Moment-Aufnahme für mich bewahrte.
Über Geschwister zu schreiben, ist eine heikle Angelegenheit. Denn nie ist man dabei ein auch nur halbwegs objektiver Beobachter. Man ist mittendrin in der Geschwister-Geschichte, hoffnungslos subjektiv, ohne innere Distanz, ohne wirklichen Überblick über das Ganze. Dazu kommt: Auch Erinnerungen können täuschen. Denn jede Erinnerung ist wie eine Moment-Aufnahme, Teil eines Mosaiks. Es kann sein, dass das Ganze, in das sie hineingehört, ganz anders aussieht, als die Moment-Aufnahme es suggerieren will.
Es gilt also, vorsichtig zu sein, wenn man über das Leben mit Geschwistern schreibt. Denn die Geschichte, die man erzählt, speist sich allein aus dem Pool der Erinnerungen. Und die müssen gerade wegen ihrer suggestiven Kraft kritisch bewertet und immer wieder in das größere Ganze eingeordnet werden.