Ein Gefühl von Verlassenheit (6)

Quelle:  pixabay
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Zum Abschluss dieser Überlegungen komme ich noch einmal auf Pastor Stellbrink (siehe: „Ein Gefühl von Verlassenheit – 1) zurück. Er erlebte, dass Menschen ihn im Moment größter Not verließen: Zuerst seine einstigen Parteigenossen, dann seine Kirchenleitung. In der knapp bemessenen Zeit, die ihm noch blieb, stand er vor der Herausforderung, denen zu vergeben, die ihn feige und verantwortungslos verlassen hatten. Es ist nicht bekannt, ob und wie sich Stellbrink dieser Herausforderung gestellt hat.

 

Klar ist aber, dass Menschen, die feige und verantwortungslos von anderen verlassen wurden und irgendwann eine neue Zukunft mit Gott begonnen haben, vor derselben Herausforderung stehen. Jeder Mensch, der verlassen wurde, erfährt oft auch massiv Unrecht. Besonders dramatisch gestaltet sich das bei verlassenen Ehepartnern. Es ist fast unvermeidlich, dass auch Unrecht im Spiel ist, wenn eine Ehe zerbricht und ein Ehepartner den anderen verlässt. Hier werden sehr oft tiefe Wunden geschlagen, die nur schlecht heilen. Unrecht schlägt immer tiefe Wunden.

 

Menschen, die ihr Leben ohne Gott leben, haben kaum eine realistische Möglichkeit, mit erlittenem Unrecht fertig zu werden. Manche benutzen ihre Anwälte, um dem Ex-Partner sein Unrecht heimzuzahlen. Das ist menschlich nachvollziehbar, hilft aber nicht, mit dem erlittenen Unrecht klar zukommen. Oft entwickelt sich mit der Zeit ein Hass auf den Partner von einst. Dieser Hass sickert im Lauf der Zeit immer tiefer in die Persönlichkeit ein und richtet dort weitere Zerstörung an.

 

Die einzige Möglichkeit, dauerhaft und nachhaltig mit erlittenem Unrecht fertig zu werden, besteht darin, dem anderen umfassend zu vergeben. In der Regel werden nur diejenigen zu diesem schritt bereit sein, die vorher selbst Vergebung von Gott konkret und handfest erfahren haben. Gott hat ihnen eine neue Zukunft gegeben. Er hat sie aus dem furchtbaren Gefängnis der Verlassenheit herausgeführt. Nun drängt es sie, auch mit erfahrenem Unrecht aus der zeit des Verlassenwerdens abzuschließen. Sie werden innerlich bereit, die Vergebung für erlittenes Unrecht in Gottes Hand zu legen und so ganz los zulassen. Gott hat ihnen da, wo sie Unrecht getan hatten, rückhaltlos vergeben und auf alle Vergeltung verzichtet. Sie tun dasselbe nun auch gegenüber denen, die ihnen Unrecht getan haben.

 

Wie sieht dieses Vergeben praktisch aus? Zunächst wird man das erfahrene Unrecht im Gespräch mit einem Seelsorger offen besprechen. Danach kommt der entscheidende Schritt: Im Gebet kommt es zu einem inneren Loslassen des Unrechts. Vielen fällt dieser Schritt sehr schwer. Sie meinen, sie könnten mit erlittenem Unrecht nur dann fertig werden, wenn sie es fest- und am Leben erhalten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Innere Heilung der Wunden, die von erlittenem Unrecht herrühren, kann nur dann in Gang kommen, wenn die Verfolgung und Vergeltung des Unrechts in Gottes Hände kommt und dort auch bleibt.

 

Und so kann das Loslassen erfahrenen Unrechts konkret aussehen:

 

„Herr, ich komme vor dich. Ich bringe dir XY (hier wird der Name dessen genannt, der für das erlittene Unrecht verantwortlich ist). Du weißt, dass er / sie mich durch sein Handeln tief verletzt hat. Mein Schmerz ist sehr groß. Ich muss dauernd daran denken und komme darüber gar nicht zur Ruhe. In mir sind Gedanken und Gefühle der Wut und der Empörung. In mir ist auch ein Durst nach Rache. – Jesus, ich gebe dir jetzt dieses ganze große Unrecht. Ich lege es jetzt in deine Hände. Ich lasse es jetzt los. Sei du der Richter zwischen XY und mir. So wie du mir vergeben hast ohne alle Vergeltung, vergebe ich jetzt und hier dem XY. Er / sie soll frei sein von meinem Wunsch nach Vergeltung und Rache. Ich verzichte jetzt darauf, ihm / ihr sein Unrecht innerlich weiter nachzutragen und vorzuwerfen. Ich lasse XY ab jetzt und für immer frei. Du, Herr, wirst mit diesem Unrecht in der richtigen Weise umgehen. Ich danke dir!“

 

Wenn zu einem späteren Zeitpunkt Wut- und Rachegedanken wiederauftauchen, kann das Gebet (am besten zu zweit) wiederholt werden. Allmählich kommen dann die verletzten Gefühle zur Ruhe und innere Heilung setzt ein.

 

Und wieder gilt: Durch die skizzierten Schritte öffnet und festigt sich die Zukunft mit Gott weiter. Das neue Leben mit Jesus erfasst immer tiefere Lebensbereiche.

 

 

Mit dem Vergeben erlittenen Unrechts kommt die Bewältigung der Verlassenheit zu ihrem Abschluss.