Ein Gefühl von Verlassenheit (3)

Quelle:  pixabay
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Wie kann ein Mensch mit der Erfahrung des Verlassenwerdens klarkommen?

 

Es gilt zunächst gewiss dies Eine: Der Schmerz, den das Verlassenwerden auslöst, bringt massive Ängste vor einem bevorstehenden Untergang mit sich. Es entsteht Panik, womöglich sogar kopflose Panik. Dies ist eine sehr kritische Phase, denn hier lauern Kurzschluss-Reaktionen, die sehr (selbst-)zerstörerisch sein können: Alkoholexzesse, Verlust des Arbeitsplatzes, Abbruch der letzten vielleicht noch vorhandenen Beziehungen, innere und äußere Verelendung, Verlust der Wohnung.

 

Wer erlebt, dass er verlassen wird, muss zunächst alle noch vorhandenen Widerstandskräfte darauf konzentrieren, sich jetzt nicht aufzugeben, obwohl die Zukunft dunkel und hoffnungslos zu sein scheint. Jetzt geht es einfach nur darum, den Status Quo wenigstens halbwegs zu bewahren, bis sich der erste Sturm der Gefühle etwas gelegt hat. In dieser sehr kritischen Phase können die letzten noch vorhandenen Freunde und Wegbegleiter vor dem Schlimmsten bewahren und zusammen mit dem Verlassenen diese düstere Wegstrecke durchstehen. Sie achten darauf, dass er sich äußerlich nicht vernachlässigt, regelmäßig isst, etwaige Alkoholexzesse auf ein Minimum reduziert, zur Arbeit geht, Rechnungen bezahlt und sich nicht in der Wohnung verbarrikadiert. Sie achten auch darauf, dass der Verlassene sich nicht in den zum Teil rasch wechselnden Gefühlen von rasender Wut, tiefer Depression, weinerlichem Selbstmitleid und quälenden Selbstvorwürfen verliert.

Klingt diese turbulente Phase allmählich ab, schließt sich eine zweite, nicht minder kritische Phase an: Die des schonungslosen Rückblicks und der Bilanz. Sehr ernste Fragen drängen jetzt bei dem Verlassenen in den Vordergrund: Warum ist alles so gekommen, wie es gekommen ist? Welche Rolle habe ich selbst, haben andere dabei gespielt? Welchen Anteil hatten äußere Umstände an der jetzigen Lage? Welche Fehler habe ich selbst zu verantworten? Wo haben andere versagt und sind an mir schuldig geworden?

Es ist sehr schwer, diese Phase des kritischen Rückblicks und der nüchternen Bilanz ganz allein zu bewältigen. Denn der Verlassene ist ja Subjekt der Ereignisse. Er steckt mitten drin. Der nüchterne Blick von außen ist ihm kaum möglich. Aber schon einen einzige Person des Vertrauens, die jetzt zur Stelle ist, kann eine große Hilfe sein. Sie garantiert den Blick "von außen" und kann so einen wirklich kritischen Rückblick und eine ehrliche Bilanz ermöglichen.

Sowohl das Verlassenwerden selbst, als auch die anschließende Phase von kritischem Rückblick und Bilanz sind mit erheblichen seelischen Schmerzen verbunden. Ein Mensch, der durch diesen Strudel an Schmerz gegangen ist, wird ihn nie wieder vergessen. Diese Erfahrung wird sein Leben tief und bleibend prägen. Gelingt es aber, in dieser Zeit den Kopf über Wasser zu halten und sich nicht aufzugeben, kann ein Mensch enorm gestärkt aus dieser traumatischen Zeit hervorgehen.

Aber Rückblick und Bilanz bleiben heikel. Gesetzt den Fall, das Verlassenwerden ist unverschuldet (z. B. nach dem Tod eines Angehörigen oder aufgrund einer schweren Krankheit), stellt sich massiv die Frage: "Warum ich? Warum ist das ausgerechnet mir passiert? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?" Auf diese sehr menschliche und sehr wesentliche Frage gibt es (zumindest zunächst) keine einfache Antwort. Oft zeigen sich Ansätze zur Beantwortung dieser Frage wenigstens Jahre später, aber nur sehr selten sofort. Diese Frage kann darum zunächst nur miteinander ausgehalten werden. Der Verlassene muss lernen, mit ihr zu leben.

Weniger grundsätzlich, aber kaum weniger heikel ist die Situation, wenn der Verlassene zumindest Mitschuld an seiner Lage trägt. Stück für Stück zeigt sich bei Rückblick und Bilanz persönliches Versagen. Dieses Versagen in seiner ganzen Schwere zu sehen ist schwer genug. Verantwortung dafür zu übernehmen, ist noch schwerer. Schritte zur Wiedergutmachung und Änderung des eigenen Verhaltens zu konkret planen und dann auch konsequent zu gehen ist am allerschwersten. Alte zerstörerische Verhaltensmuster müssen durchschaut und ihre Änderung angegangen werden.  Zuweilen erscheint die Aufgabe zu groß und zu schwer, als dass sie überhaupt bewältigt werden könnte. Mutlosigkeit stellt sich ein. Erst, wenn die ersten praktischen Schritte geschafft sind, kehrt langsam auch der Mut zurück. Der Verlassene muss harte Arbeit leisten. Wie gut, wenn wenigstens ein einziger vertrauter Mensch an seiner Seite ist und ihn auf dieser schweren Wegstrecke begleitet und ermutigt.

Aber noch ist die Arbeit erst halb getan.