Der Beruf des Schäfers ist jahrtausendealt. Wahrscheinlich ist er – anderslautenden Gerüchten zum Trotz - das älteste Gewerbe der Welt. Noch heute gibt es Wanderschäfer ohne feste Bleibe. Einer von ihnen ist ein Schäfer aus dem Ruhrpott: Gerade hat er sein Handy ausgeschaltet und vor einer Hecke, die den Wind etwas abschirmt, Position bezogen. Er trägt eine rote Wollmütze, Windjacke, Strickpullover und Wanderschuhe. Der Mittdreißiger stammt aus Düsseldorf und war einst ein hoffnungsfroher Student der Betriebswirtschaftslehre. Vor gut zehn Jahren brach er das Studium ab, machte eine Landwirtschaftslehre, dann den Schäfermeister und begann mit dem Aufbau einer eigenen Herde. „Aus wirtschaftlichen Gründen“, sagt er. „Damals konnte man mit Schafen noch richtig Geld machen.“ Sinkende Preise für Schaffleisch haben dann allerdings einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Seine Frau arbeitet als Industriekauffrau, damit ein geregeltes Einkommen gesichert ist. Warum gibt er die Herde nicht auf? Die Erklärung stockt. Dann fällt ihm das entscheidende Bild ein: „Ich komme abends zu meinen Schafen, und 400 schwarze Köpfe drehen sich nach mir um. Dann denke ich, das ist meine Herde.“
Um Schäfer und Herde wird es jetzt auch hier gehen. Ein Gleichnis von Jesus wird uns dabei ein paar ermutigende Dinge zu sagen haben. Dieses Gleichnis hat vor allem eine Botschaft. Die Botschaft lautet: „Was zählt, ist der einzelne!“
Jesus sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er "eins" von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?
„Hundert Schafe“, das war zu den irdischen Lebzeiten ein beachtlicher Reichtum. Wer hundert Schafe sein eigen nennen konnte, der war so ziemlich ein gemachter Mann. Allerdings gab´s da ein Problem: Je größer die Herde war, umso eher mussten auch die Weideplätze gewechselt werden. Und die Wege zwischen den Weideplätzen, die führten nicht selten auch durch unwegsames Gelände, Wüste. Und dort war die Herde in Gefahr. Und genau dort geht nun eines der hundert wolligen Tiere verloren. Und Jesus stellt dazu eine Frage, eine sogenannte rhetorische Frage, auf die die Antwort schon mitgeliefert wird: Wer von euch lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlorenen nach, bis er´s findet? Und die Antwort lautet: Natürlich alle, jeder würde das tun!
Wirklich? Ist es vernünftig, neunundneunzig Schafe in der Wüste zurückzulassen, vielleicht in einer Höhle, vielleicht sogar mit einem Unterschäfer als Begleitung, und all das nur, um einem einzigen verloren gegangenen Tier nachzugehen?
Der Schäfer in unserm Gleichnis tut das. Er übernimmt sofort Verantwortung für den Verlust, für das eine verloren gegangene Tier. Er macht deutlich: Es ist der einzelne, der zählt! Er sagt nicht: Besser die wertvolle Herde bewachen und das eine abhanden gekommene Tier verschmerzen. Er sagt nicht: Die Herde ist wichtiger als das einzelne Tier! Er zeigt: Meine Verantwortung und meine ganze Aufmerksamkeit richten sich jetzt ganz auf das eine verschwundene Tier. Es ist der einzelne, der zählt!
Und damit gibt der Schäfer seiner Herde etwas sehr Wichtiges: Er gibt ihr Sicherheit! Würde er das eine verlorene Schaf verloren geben, würden alle anderen verunsichert werden. Sie wüssten: Die Herde ist wichtiger als ich. Und sollte ich eines Tages verloren gehen, dann wird mich niemand suchen! Ich allein bin nicht wichtig! Ich allein bin nicht wertvoll! So aber, indem der Schäfer das eine verlorene Tier sucht, wird deutlich: Jeder einzelne ist wertvoll. Jeder einzelne zählt so viel, dass der Schäfer lieber alle anderen in der Einöde lässt, als auch nur einen einzigen verloren zu geben. Es ist der einzelne, der zählt.
Bei Gott – so will Jesus deutlich machen – ist das genauso. Gott ist wie der Schäfer. Er sieht den einzelnen. Er sieht jeden einzelnen Menschen, der verloren ist, der Ihn noch nicht kennt und auf eine Ewigkeit ohne Gott zusteuert. Und Er übernimmt sofort Verantwortung für ihn. Nichts anderes ist wichtiger. Man könnte sagen: In gewisser Weise zählt Gott immer nur bis „eins“. Und das hat so etwas Ermutigendes: Menschen, die fern sind von Gott und verloren, die haben einen ganz starken Verbündeten: Gott selbst. Denn der übernimmt die Verantwortung dafür, dass sie gerettet werden können aus ihrer Verlorenheit, wenn sie sich denn darauf einlassen.
Und dann geht das weiter. Jesus
erzählt: Und wenn er das Schaf gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er
heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Der Schäfer macht sich auf den Weg und sucht. Und zwar sucht er, ohne auf die Kosten zu achten! In der libanesischen oder palästinensischen Landbevölkerung weiß jeder, dass es einen oder mehrere Tage dauern kann, die der Schäfer in der zerklüfteten Wüste herumklettern muss, bis er sein verlorenes Schaf findet. Und wenn er es gefunden hat, liegt der schwerste Teil der Arbeit noch vor ihm: Jetzt muss er nämlich das schwere Tier auch noch zur Herde zurücktragen. Eine sehr anstrengende Tätigkeit.
Ein bekannter Theologe aus dem Nahen Osten schreibt dazu: „Ehrlich gesagt, ich bin froh, es geschafft zu haben, nur mich selbst über jenes abgeschiedene, unwegsame Gelände geschleppt zu haben. Ahnungslose Touristen, die in solchen Randgebieten voller Eifer und mit der Kamera in der Hand losziehen, müssen oft auf einer Trage wieder herausgetragen werden.“
Der Hirte aber nimmt seine schwere Last „voller Freude“ auf den Rücken und nimmt diese zermürbende Arbeit fröhlich auf sich. Er übernimmt die Verantwortung für das verlorene Tier. Und er sucht, ohne auf die Kosten zu achten.
Auch bei Gott ist das so. Er
sucht Menschen, die ihn nicht kennen. Die ganz besonders! Und bei dieser Suche spielen Kosten keine Rolle. Gott zahlt jeden Preis! Genauer: Jesus
zahlt jeden Preis. Er gibt sein Leben am Kreuz als Ausgleich für die Sünde und die Schuld von uns Menschen. In diesem Gleichnis von dem Schäfer, der sucht, ohne auf die Kosten zu achten, kommt
also das Kreuz in den Blick. Gottes achtet nicht auf die Kosten, wenn er uns Menschen sucht, um uns zu retten. Er ist bereit, den höchsten Preis zu zahlen: Das Leben seines Sohnes
Jesus.
Und dann fügt Jesus am Ende
seines Gleichnisses noch einen sehr interessanten Satz hinzu:
Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über "einen" Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Hier kommt nun abschließend noch einmal der einzelne in den Blick. Im Himmel herrscht ausgelassene Freude über einen Sünder der Buße tut. Aber besonders interessant ist, wie hier in diesem abschließenden Satz definiert wird, was „Buße“ ist. „Buße“ bedeutet, so macht es Jesus mit diesem Gleichnis klar, die Bereitschaft, sich von Gott (Jesus) finden und nach Hause tragen zu lassen. Kein Wort steht hier von besonderen Bußleistungen, die erst mal zu erbringen wären. Das Wort „Buße“ beschreibt die Bereitschaft, sich von Jesus finden und ins Vaterhaus Gottes tragen zu lassen. Ich finde, gerade an dieser Stelle, wo es um die Buße geht, kommen die Güte und die Freundlichkeit Gottes besonders stark zum Ausdruck. Ermutigend ist das!
Halten wir also fest: Vor Gott zählt immer der einzelne. Insbesondere zählt jeder einzelne Mensch, der Gott nicht kennt und auf eine Ewigkeit ohne Gott zusteuert. Gott übernimmt Verantwortung für ihn. Er scheut keine Kosten bei der Suche nach ihm. Er findet ihn und trägt ihn nach Hause und dann wird im Himmel gefeiert, dass es kracht. Es ist der Einzelne, der zählt vor Gott. Und in allem ist es immer der Lebendige Gott in Person, der die Initiative hat: Beim Verantwortung tragen, beim Suchen, beim Finden und beim nach Hause tragen.
Ein Bericht aus den USA illustriert das perfekt: Da erzählte ein Mann in einer Versammlung davon, wie Gott ihn gesucht und gefunden habe. Er sprach davon, wie Gott ihn geliebt, ihn gesucht, ihm nachgegangen, ihn schließlich gerettet und innerlich neu gemacht habe. Es war ein beeindruckendes Zeugnis für die Größe und Herrlichkeit Gottes.
Nach Ende der Versammlung aber kam einer der Zuhörer zu ihm und sagte: „Wissen Sie, ich fand das alles ja ganz wunderbar, was Sie da zu berichten hatten, was Gott für Sie getan hat. Aber: Sie haben überhaupt nicht über darüber gesprochen, was nun Ihr Anteil dabei war, und - was Sie getan haben! Wenn Gott uns rettet, dann ist es doch wohl so, dass er einen Teil tut und wir den anderen. Und deswegen wäre es doch gut gewesen, sie hätten auch davon etwas berichtet!“
„Oh,“, sagte der Mann, „das tut mir leid. Ich bitte um Verzeihung. Ich hätte das wirklich erwähnen sollen. Also: Mein Part sah so aus, dass ich weggerannt bin vor Gott. Und Gottes Part bestand darin, dass er mir nachgerannt ist, bis er mich endlich gefunden hatte.“
Vor Gott zählt immer der einzelne.