Der verstoßene Vater (6)

Quelle:  pixabay
Quelle: pixabay

Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.  (Die Bibel, Lukasevangelium 15, 20)

 

Man kann sich leicht vorstellen, mit welcher Angst der jüngere Sohn die letzten Kilometer zum Haus seines Vaters zurückgelegt hat. Er weiß: Sowie ihn der erste Dorfbewohner erkennt, werden alle auf den Beinen sein! Er hat ein Spießrutenlaufen vor sich. Die Leute werden aus den Häusern strömen und ihn mit eisiger Verachtung überschütten. Sie werden ihn, der seinen Vater verstoßen hat, nun seinerseits verstoßen. Sie werden die Kezazah-Zeremonie durchführen und ihn mit Hohn und Spott bis vor das Haus seines Vaters begleiten. Und was dann dort vor seinem ehemaligen Zuhause ablaufen wird, kann er nur ahnen.

 

Aber die Dinge entwickeln sich anders als erwartet: Als er noch weit entfernt war, so berichtet die Bibel, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn. Und jetzt achten Sie darauf, was geschieht: Von dem Vater heißt es: Und er lief ... Lukas, der Evangelist, der dieses Gleichnis Jesu niederschrieb, war ein gebildeter Mann. Er wählte seine Worte mit Bedacht. Für laufen gebraucht er das griechische Wort dramon. Und das heißt genau übersetzt: Er lief, so schnell er konnte. Hier wird also nicht ein langsames Schlurfen beschrieben, auch kein zügiges Gehen. Sondern: Der Vater rennt!

 

Im Nahen Osten würde ein Mann in seinem Alter und in seiner Position immer sehr langsam und würdevoll schreiten. Man kann davon ausgehen, dass der Vater in den 40 Jahren vorher  niemals auch nur für irgendeinen Zweck gerannt ist. Kein Dorfbewohner, der älter als 25 Jahre ist, würde jemals rennen. Aber jetzt rennt der Vater die Dorfstraße hinunter. Damit das überhaupt geht, muss er sein Gewand wie ein Heranwachsender vorne in die Hand nehmen und es anheben. Sonst würde er stolpern! Und indem er das tut, werden seine Beine sichtbar, was im Nahen Osten bei einem älteren Mann als äußerst demütigend betrachtet wird, als peinliche Schande. Die Herumlungerer auf der Dorfstraße werden hinter dem Vater herlaufen, aufs Höchste erstaunt und irritiert, dass dieser geachtete Mann sich öffentlich so  blamiert.

 

Natürlich stellt sich die Frage: Warum tut der Vater das? Der Sohn ist doch noch recht weit weg! Die nächstliegende Antwort lautet: Der Vater rennt, weil er Mitleid mit seinem Sohn hat. Klar! Das stimmt! Aber es steckt mehr dahinter:  Der Vater weiß, was seinen Sohn im Dorf erwartet. Er weiß, dass es ein fürchterliches Spießrutenlaufen für ihn geben wird. Und so zieht er die Augen der Spötter weg von seinem Sohn - auf sich! Er nimmt die Schande und Demütigung auf sich, die eigentlich seinen Sohn treffen soll.

 

Und dann umarmt er seinen Sohn sogar und küsst ihn. Genau übersetzt steht da eigentlich: Er küsste ihn immer wieder. Und damit zeigt der Vater den bitterbösen Dorfbewohnern, dass er seinen Sohn annimmt. Und das ist wichtig: Niemand wird es jetzt noch wagen, den Sohn mit Verachtung zu begegnen. Der Vater nimmt die Wut, den Hass, die Verachtung der Dorfbewohner auf sich und zieht sie so von seinem Sohn weg.

 

Und damit sind wir an einem sehr wichtigen Punkt. Was bedeutet das denn, wenn der Vater sein Haus verlässt und dem Verlorenen entgegenrennt und dabei alle Schande und Demütigung auf sich nimmt? Was bedeutet denn das? Nun, was wir hier haben, ist ein Bild für die Menschwerdung Gottes. Der Vater (Gott) verlässt sein Haus (den Himmel). Er begibt sich dorthin, wo der Verlorene ist. Und er nimmt dabei alle Schande und Demütigung auf sich. Jesus spricht also in diesem Gleichnis bildhaft von Gott, der den Himmel verlässt und zu den Menschen, den Verlorenen kommt. Genauer: Jesus spricht von sich. Bedenken wir: Jesus hat einmal gesagt (Joh 10, 30): Ich und der Vater sind eins. Und hier, in diesem Gleichnis macht er nun deutlich: Wenn ich hier unter euch bin und zu den Verlorenen gehe, dann ist Gott selbst unter euch und geht den Verlorenen entgegen: Denn ich und der Vater sind eins. - Das Gleichnis vom verstoßenen Vater beschreibt hier also in sehr feiner Weise das Geheimnis der Menschwerdung Gottes.

 

Und jetzt schauen Sie, was mit dem jüngeren Sohn passiert ...

 

Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. (Die Bibel, Lukasevangelium 15, 21)

 

Natürlich haben Sie bemerkt, dass ein Stück der Rede, die der Sohn vorbereitet hat, fehlt. Der Satz: Mache mich zu einem deiner Tagelöhner, wird nicht gesagt. Traditionell wird dieser Vers so ausgelegt, dass der Vater seinen Sohn in seiner Rede unterbrochen habe. Aber: Davon steht hier nichts. Und darum scheint mir eine andere Deutung sehr viel wahrscheinlicher zu sein: Der Sohn begreift (erst!) in diesem Augenblick, was er getan hat. Er begreift, dass nicht das verschwendete Erbe das Hauptproblem ist, sondern die Beziehung zum Vater, die er – der Sohn – zerstört hat. Anders gesagt: Der jüngere Sohn war in seiner Gleichgültigkeit gegen seinen Vater so verhärtet, dass er die Liebe seines Vaters in all den zurückliegenden Jahren nicht wahrnehmen konnte. Aber jetzt, wo sein Vater ihm entgegenrennt, alle Schande und Demütigung auf sich zieht und ihn immer wieder küsst, jetzt begreift er. Er begreift, dass sein Vater ihn immer geliebt hat. Er begreift, dass er diese Liebe mit Füßen getreten und verstoßen hat. Er begreift, dass der Vater ihm diese Liebe jetzt wieder neu und vollkommen grenzenlos schenkt. Und da bricht die Gleichgültigkeit in ihm zusammen. Er wird überschwemmt von Schuld-Erkenntnis. Und er kann nur noch stammeln: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. Was wir hier haben, ist die Heilung der Gleichgültigkeit. Der jüngere Sohn, der seinen Vater verstoßen hat, lässt sich in diesem Augenblick von seinem Vater finden. Und das – ist Buße, das – ist Reue: Sich von Gott (Jesus) finden zu lassen.

 

Und das gilt für jeden von uns: Das Entscheidende ist, dass wir uns von Gott finden lassen. Das bringt die Wende in unser Leben. Halten Sie das bitte fest: Buße bedeutet, dass ich mich von Gott finden lasse. Das ist das Entscheidende! Doch schauen wir, wie es mit dem jüngeren Sohn weitergeht ...

 

Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße  und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.

(Die Bibel, Lukasevangelium 15, 22 – 24)

 

Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an, ordnet der Vater an. Was aber ist das „beste Gewand“? Nun, ganz einfach: Das „beste Gewand“ ist das Festtags-Gewand des Vaters! Die Diener des Vaters müssen es sofort herbeiholen und dem Sohn anziehen. Und auf dem großen Fest, das nun beginnt, wird der Sohn dieses Festtags-Gewand des Vaters tragen. Und alle im Dorf werden es sehen. Und keiner, keiner (!) wird mehr wagen, auch nur ein böses Wort gegenüber dem Sohn fallen zu lassen. Aus Achtung vor dem Vater werden ihn alle wieder annehmen, als wäre nichts geschehen.

 

Und dann der Ring ... Das ist der Siegelring der Familie. Mit solchen Siegelringen wurden Verträge gesiegelt. Und das heißt: Der Vater gibt dem jüngeren Sohn die volle Verfügung über den Rest des Familienvermögens zurück. Er darf damit frei schalten und walten. Und das ist noch einmal ein wichtiger Punkt: Der Vater fordert das verschleuderte Kapital nicht zurück! Mit keinem Wort! Sondern: Der Vater trägt die – wahrscheinlich immensen – Kosten, die die Eskapaden seines Sohnes verursacht haben. Der Vater trägt die Kosten. Alle Kosten! Er allein! Und das ist von großer Bedeutung! Jesus macht damit deutlich: Gott ist ein Gott, der alle Kosten trägt. Gott, der Vater, trägt alle Schulden, die Menschen verursacht haben. Gott, ist ein Gott der für die Schulden anderer bezahlt. In wiederum sehr feiner Weise weist Jesus hier also auf seinen Tod am Kreuz hin. Denn dort am Kreuz wird er, der Sohn, der mit dem Vater eins ist, für die Schuld der Menschen mit seinem Leben bezahlen. Die Menschwerdung Gottes und der Sühnetod Christi – beide stecken also in diesem Gleichnis schon drin.

 

Und der jüngere Sohn? Wie mag es ihm gegangen sein in diesen dramatischen Minuten und Stunden? Nun, ich glaube, dass er – sehr wahrscheinlich - mit einer Versuchung zu kämpfen hatte. Es hätte für ihn sehr nahe gelegen zu sagen: „Vater, ich kann das nicht annehmen, dass du mich wieder als deinen Sohn annimmst und dazu noch alle Kosten trägst. Es ist zu unverdient!“ Das hätte nahe gelegen. Wenn wir Menschen so unverdient  überreich von Gott beschenkt werden, dann beschämt uns das, eben, weil es so furchtbar unverdient ist. Dann stehen wir in Versuchung aus verletztem Stolz und verletzter Eitelkeit das große Geschenk zurückzuweisen. Wir möchten lieber alles verdienen und nichts geschenkt haben. Wir machen lieber Geschäfte! Der jüngere Sohn ist dieser Versuchung nicht erlegen. Er hat sich als das Kind seines Vaters neu annehmen lassen. Aber in Zukunft weiß er, dass er alles, alles (!) der Liebe und der Großzügigkeit seines Vaters zu verdanken hat. Und das wird eine Wirkung haben: Er wird in Zukunft mit dem Vater leben und ihm dienen – in Liebe. Und das ist es, was Gott für jeden von uns will und ersehnt: Dass wir mit ihm leben und ihm dienen – in Liebe!

 

Der Theologe William Temple hat einmal gesagt, dass Gott uns so viel Freiheit schenkt, dass wir sogar seine Liebe ablehnen können. Und so ist es wirklich: Wir können Gottes Liebe ablehnen und Verlorene bleiben. Aber die Liebe des himmlischen Vaters bleibt dennoch. Und wenn wir zurückkehren, ist sie es, die uns empfängt.