Ein Gefühl von Verlassenheit (2)

Quelle:  pixabay
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Was sind eigentlich die Gründe dafür, dass Menschen verlassen werden?

 

Ein häufiger Grund ist eklatantes Fehlverhalten, also ein dramatisches menschliches Versagen: Ein verheimlichter Seitensprung in einer Partnerschaft oder Ehe, der plötzlich offenbar wird, kann so ein Fehlverhalten sein. Aber auch eine Spielsucht, die sämtliche Ersparnisse der Familie verschwendet hat, kann ein Verlassenwerden auslösen. Dasselbe gilt für verschwiegene Schulden, die sich plötzlich nicht mehr geheim halten lassen oder eine Unterschlagung mit schwerwiegenden strafrechtlichen Folgen.

 

Die Reaktion auf dramatisches Fehlverhalten ist oft Empörung: „Das hätte ich dir nicht zugetraut!“ sagen Freunde, Verwandte und Ehepartner. „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Für mich bist du gestorben!“  Die Folge: Ein Mensch bleibt mit seinem – zugegebenermaßen  schwerwiegenden – Fehlverhalten verlassen zurück. Er macht sich schwere Vorwürfe. Er weint bittere Tränen über das, was er getan hat. Und er bleibt verlassen. Alle, die ihm in der Vergangenheit Wärme, Liebe und Geborgenheit entgegengebracht haben, ziehen sich wie auf Kommando von ihm zurück.

 

Aber es gibt andere Gründe, die dazu führen, dass Menschen verlassen werden. Nicht immer ist Fehlverhalten die Ursache. Auch bestimmte gravierende Ereignisse, die gar nichts mit Schuld und Versagen zu tun haben, können ein Verlassenwerden auslösen: Der Tod eines nahen Angehörigen (z. B. des Ehepartners) kann dazu führen, dass Freunde und Bekannte sich plötzlich zurückziehen. Sie sind unsicher. Sie wissen nicht, wie sie einem Menschen begegnen sollen, der gerade  den Ehepartner oder (noch viel schlimmer) ein Kind verloren hat. Sie wechseln rasch die Straßenseite, wenn es zu einer Begegnung kommt. Sie rufen nicht mehr an. Sie brechen den Kontakt ab. Sie stürzen die Witwe, den Witwer, die Eltern (die ein Kind verloren haben) in tiefe Verlassenheit.

 

Dasselbe kann passieren, wenn bei einem Menschen eine ernste Krankheit ausbricht: Eine Krebserkrankung, eine AIDS-Infektion oder auch der Ausbruch einer Psychose. Es kann dann dazu kommen, dass der Kranke von einem Tag auf den anderen verlassen wird. Wie bitter das für den Betroffenen ist, der zusätzlich zu seiner Erkrankung nun auch noch  mit der Verlassenheit klarklommen muss, kann man sich vorstellen.

 

Oft aber ist schiere Angst die Ursache dafür, dass Menschen verlassen werden. Das in Teil 1 erwähnte Beispiel von Pastor Stellbrink aus Lübeck führt das deutlich vor Augen: Stellbrink zeigte Mut und Verantwortungsbewusstsein, wo andere schwiegen und sich angstvoll wegduckten. Als Stellbrink verhaftet wurde, wollte niemand mehr mit ihm zu tun haben. Dahinter stand die Angst, bald selbst dort zu landen, wo Stellbrink jetzt schon saß: Im Todestrakt des Gefängnisses. Heute ist Stellbrink ein geachtetes Vorbild, damals aber ein verlassener Mann.

 

Der Fall Stellbrink macht deutlich: Wer sich weigert, im Mainstream der Gesellschaft mitzufloaten, steht akut in Gefahr, verlassen zu werden. Jeder weiß: Wenn auch ich gegen den Strom schwimme und auffällig werde, kann die Verlassenheit sehr schnell mein Schicksal sein.