Ein Gefühl von Verlassenheit (1)

Quelle:  pixabay
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Am 10. November 1943 wird der evangelische Pastor Karl-Friedrich Stellbrink in der Untersuchungs-Haftanstalt Hamburg mit dem Fallbeil hingerichtet. Wie war es dazu gekommen?

 

Stellbrink, Pastor der Lutherkirche in Lübeck, steht zunächst den Deutschen Christen nahe, ist Mitglied der NSDAP und hat große Sympathien für Adolf Hitler. Das ändert sich, als 1939 der zweite Weltkrieg ausbricht. Stellbrink lehnt diesen Krieg entschieden ab. Seine kritische Einstellung zur Hitler-Diktatur verstärkt sich, als er 1941 vom Euthanasie-Programm, also der systematischen Tötung von Erb- und Geisteskranken, Behinderten und sogenannten sozial oder rassisch Unerwünschten erfährt.

 

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, ist dann eine Trauerfeier, die er für einen Nazi-Funktionär zu halten hat: Als Stellbrink die Kapelle betritt, findet er dort das Kruzifix verhüllt vor. Man erklärt ihm, es sei den Trauernden nicht zuzumuten, den Gekreuzigten während der Feier vor Augen zu haben. Stellbrink erwidert, wenn man Christus zum Schweigen bringe, werde Gott mit anderer, mächtiger Stimme sprechen.

 

In der Nacht vom 28. zum 29. März 1942 wird die Stadt Lübeck heftig bombardiert. In seiner Konfirmationspredigt am Palmsonntag, dem 29. März, sagt Stellbrink sinngemäß, dass Gott „in dem Feuerhagel der vergangenen Nacht mit mächtiger Stimme geredet habe“.

 

Wenige Tage später wird Stellbrink verhaftet. Gemeinsam mit ihm kommen drei katholische Amtsbrüder in Haft.  Und nun sind die Reaktionen interessant, die diese Ereignisse in den jeweiligen Kirchenleitungen auslösten: Während die katholische Kirchenleitung sich energisch und bis zum Schluss für ihre drei verhafteten Pfarrer einsetzt, erklärt die evangelische Kirchenleitung noch vor Eröffnung des Prozesses gegen Stellbrink, dass „für einen Volksverräter in ihren Reihen kein Platz sei.“ Stellbrink wird mit sofortiger Wirkung aus dem Dienst der Landeskirche entlassen. Weder er noch seine Familie erfahren irgendeine Unterstützung seitens der Kirchenleitung. Am 10. November 1943 sterben er und seine drei katholischen Amtsbrüder im Abstand von wenigen Minuten unter dem Fallbeil.

 

Diese Begebenheit geht unter die Haut, oder? Diese Anhäufung von Feigheit, Gemeinheit, Verrat und Gefühllosigkeit seitens einer evangelischen Kirchenleitung, verschlägt einem die Sprache. Wie nur mag es Karl-Friedrich Stellbrink und seiner Familie gegangen sein, damals, als die Kirchenleitung ihn sehenden Auges dem Tod auslieferte? Und welche Gefühle mögen ihn damals bewegt haben, als er in Hamburg in Haft saß: Trauer, Entsetzen, Hass oder unbändige Wut? Wir wissen es nicht genau. Aber eines ist klar: Seine letzten Tage im Gefängnis müssen von einem Gefühl grenzenloser Verlassenheit geprägt gewesen sein. Im Augenblick höchster Not verließen ihn alle, ließen ihn im Stich.

 

Verlassenheit ist etwas anderes als Einsamkeit. Einsamkeit ist ein ruhender Zustand. Sie kann sehr belastend sein und Menschen zum Äußersten treiben. Aber sie ist etwas anderes als Verlassenheit. Verlassenheit hat etwas Dynamisches. Sie besteht darin, dass Menschen sich (meist eher plötzlich) von einem anderen Menschen zurückziehen, jeden Kontakt abbrechen und ihn seinem Schicksal überlassen. Verlassenheit besteht in der Erfahrung, dass Menschen einem jede Form von Sympathie, Freundschaft, Unterstützung, Zuspruch und Solidarität plötzlich entziehen. Wer Verlassenheit erlebt, erfährt die Treulosigkeit von Menschen.

 

Menschen, die in Verlassenheit gestoßen werden, haben das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie stürzen ins Leere. Alles, was lange selbstverständlich zu ihrem Leben gehörte,  wird plötzlich gekappt. Von einem Tag auf den anderen haben sie nur noch sich selbst. Alles andere, was vielleicht über Jahre oder Jahrzehnte gewachsen ist, bricht plötzlich weg. Von einem Augenblick zum anderen sind sie auf sich geworfen.

 

Die Erfahrung, verlassen zu werden, trifft Menschen an einer ihrer verwundbarsten Stellen. Kein Mensch ist eine Insel, niemand ein Fels in der Brandung.  Paul Simon hat auf diese Tatsache in einem seiner Lieder in bewegender Weise hingewiesen. Er schreibt: „I am a rock. I am an island!“ Ein Lied, das die Tragik eines verlassenen Menschen beschreibt, der sich trotzig einzureden versucht, was nicht wahr ist: „Ich bin ein Fels. Ich bin eine Insel!“ Menschen sind weder Insel noch Fels. Menschen sind so konstruiert, dass sie auf Gemeinschaft, Liebe, Freundschaft und Solidarität angewiesen sind. Kein Mensch ist in sich so stabil, so autonom, so selbstgewiss, dass er ohne Bestätigung, Nähe und Treue anderer auf Dauer auskommen kann.

 

Menschen zweifeln an sich, werden von Unsicherheiten heimgesucht, haben ein schwankendes Selbstwertgefühl und werden von Gefühlen der Sinnlosigkeit gequält, wenn sie längere Zeit ganz allein auf sich gestellt sind. Wenn Bestätigung, Zuwendung, Liebe und Akzeptanz auf Dauer ausbleiben, zerbröckeln ihre inneren Strukturen, die ihrem Leben Richtung, Selbstgewissheit und Widerstandskraft gegeben haben. Wer verlassen wird, fängt innerlich an zu „schwimmen“. Die innere Kraft und Stabilität, die er braucht, um sein Leben zu gestalten und ihm Form zu geben, lösen sich auf. Zurück bleibt eine zutiefst verunsicherte Person, die sich verzweifelt nach der Zuwendung anderer sehnt – und sie nicht bekommt. Wer verlassen wird und verlassen bleibt, höhlt innerlich aus und wird zur leeren Hülle. Er fliegt aus der Bahn.

 

(Fortsetzung folgt)