Nachdenken über die Feigheit - 2

Quelle: pixabay
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Eine junge Frau hat eine Stelle in einer Online-Firma bekommen, die exklusive Damen-Handtaschen verkauft. Sie arbeitet in der Kunden-Kommunikation. Eines Tages beschwert sich eine Kundin über eine schludrig ausgeführte Bestellung. Die Kundin ist im Recht. Als die junge Frau schon im Begriff ist, ihr eine entschuldigende E-Mail zu schreiben, kommt ihr Vorgesetzter auf sie zu. Er weist sie an, in der E-Mail jedes Fehlverhalten der Firma abzustreiten und stattdessen der Kundin die Verantwortung aufzubürden. Die E-Mail wäre eine glatte Lüge. Die junge Frau weiß das.

Wie soll sie sich verhalten?

Dieses Fall-Beispiel ist Thema  in einer Diskussion mit jungen Erwachsenen. Die Antwort der jungen Leute fällt eindeutig aus: „Die junge Frau darf die E-Mail auf keinen Fall schreiben! Es wäre eine Lügen-E-Mail!“

Aber das Fall-Beispiel ist noch nicht zu Ende: Die junge Frau sagt ihrem Vorgesetzten, dass sie diese E-Mail so nicht schreiben könne, da sie in keiner Weise den Tatsachen entspräche. Der Vorgesetzte reagiert daraufhin ungehalten und kündigt an, dass ihre Weigerung ein Nachspiel haben werde.  Die junge Frau ist verunsichert und hat Angst um ihren Job. Sie spürt, dass da etwas auf sie zukommt. Sie fragt sich, ob es nicht besser gewesen wäre nachzugeben.

Wieder werden die jungen Leute gefragt, wie die junge Frau sich nun verhalten solle. Die Antwort kommt spontan: Sie muss die E-Mail auf jeden Fall schreiben. Auf die Rückfrage,  warum das, was vorher falsch war nun plötzlich richtig sein solle, lautet die Antwort: „Naja, die junge Frau könnte ja ihren Job verlieren. Da muss sie halt machen, was ihr Chef verlangt.“

Aber das Fall-Beispiel ist immer noch nicht zu Ende: Am nächsten Tag wird die junge Frau zum Personalgespräch gebeten. Als sie den Raum betritt, sind sämtliche Manager der Firma zugegen. Eindringlich macht man ihr klar, dass sie verpflichtet sei, jede Anweisung, die sie bekomme, auch auszuführen. Andernfalls, so lautet die Drohung, werde das Konsequenzen für sie haben. Die junge Frau fühlt sich in die Enge getrieben. Sie will ihren Job nicht verlieren. Aber sie will auch ihrem Gewissen folgen. Jetzt muss sie entscheiden.

Wiederum fällt auf Nachfrage die Reaktion der jungen Leute klar und entschieden aus: „Die junge Frau steht in Gefahr, ihren Job zu verlieren. Also muss sie auf jeden Fall tun, was man von ihr verlangt.“

Sehr wahrscheinlich würden die allermeisten Menschen ganz spontan genauso entscheiden. Der – möglicherweise – drohende Verlust des Arbeitsplatzes rechtfertigt die Lüge. So sehen es viele. Sie sind ziemlich schnell bereit, auch krasses Unrecht zu unterstützen, nur weil ein Vorgesetzter ihnen droht. Mutig ist das nicht. Es ist wohl eher feige, oder? Aber: Hätten wir anders gehandelt?

Was eigentlich steckt hinter der alltäglichen Feigheit?

Es ist die tiefsitzende Angst, womöglich Nachteile hinnehmen zu müssen, wenn man mutig ist und das Richtige tut. Diese Angst steckt hinter der Feigheit. Viele Menschen fühlen sich in Situationen, wie die der jungen Frau hilflos, allein gelassen, ohnmächtig. Sie sehen nicht, wie sie aus dieser bedrohlichen Lage wieder herauskommen könnten. Sie fühlen sich komplett überfordert. Und so lügen sie oder machen sich in anderer Weise zum Komplizen des Unrechts. Sie lassen sich manipulieren.

Was viele nicht bedenken: Sie begeben sich mit damit auf einen Weg, der einer Abwärtsspirale gleicht.  Wer einmal aus Feigheit gelogen hat, wird es wieder tun. Wer sich einmal aus Feigheit zum Komplizen des Unrechts machen ließ, wird es wieder und wieder und wieder tun. Er wird immer weniger in der Lage sein, seine Feigheit zu kontrollieren und zu überwinden. Er wird immer erpressbarer werden. Er wird sich daran gewöhnen, zu krassem Unrecht zu schweigen, nur um nicht selbst in die Schusslinie zu geraten. Er wird ein Mensch ohne Rückgrat werden, der nicht mehr weiß, wer er ist und der sich selbst nicht mehr achten kann.

Und damit wird klar: Feigheit führt in Abhängigkeiten. Sie zwingt  Menschen dazu, gegen ihr Gefühl für „Richtig“ und „Falsch“ zu handeln. Sie schwächt sie dadurch. Sie macht sie auch erpressbar, bis sie sich selbst nicht mehr leiden können.